Sonntag, 22. Februar 2015

Unschooling - Homeschooling - Freilernen - Radical Unschooling - Hackschooling - Worldschooling - XYZSchooling

Wenn man neu beim Schulfreien Lernen ankommt, dann wird man nach einer kurzen Pause (in der man erst mal sacken lassen muss, dass Schule doch nicht die beste Idee ist, sondern vielleicht sogar eher eine sehr Schlechte) von vielen neuen Begriffen überwältigt.
Nein! Erschlagen!
Man fühlt sich sehr orientierungslos, da alles was man bisher für richtig hielt (Schule gut, Mehr Schule besser) auf einmal falsch ist (Schule schlecht, mehr Schule Katastrophe).

Zeugnisse - bäh. Bestrafen - bäh. Motivieren - bäh. Belohnen - bäh. In gutes und schlechtes Wissen unterteilen - bäh. Allgemeinwissen - bäh. Noten - bäh. Stundenplan - bäh. Hausaufgaben - bäh. Früh aufstehen - bäh (naja, da hatte manch einer schon so ein Vorgefühl :) ). Melden - bäh. Erwachsene sind die Bestimmer - bäh. Einen Job mit so viel Prestige wie möglich und so viel Geld verdienen wie möglich - halbbäh. Diszipliniert werden - bäh.
Und die Liste lässt sich noch endlos weiterführen.

Man fragt sich dann: Was stimmt jetzt eigentlich noch? Und was nicht? Wer bin ich? Was hätte alles aus mir werden können, wenn ich mich einfach hätte entwickeln können? Wenn mich die Schule nicht verbogen hätte? Wie eine Aluminiumfolie, die um irgendeine Arbeit rumgewickelt wird, die in unserer Gesellschaft gerade verrichtet werden soll?

Man versteht auf einmal den kompletten Text des Liedes "Logical Song" von Supertramp und schließt mit der Frage: "Won't you please, please tell me who I am!".

Es ist eigentlich wie bei dem Eintritt in einer Sekte (habe ich mal irgendwo gelesen). Zumal die Reaktion des Umfeldes auch ähnlich ist: "Was Homeschooler? Aber, aber... bist Du jenseits von Gut und Böse???" (ratlose Gesichter). Man hat auch nicht wirklich Leute, mit denen man sprechen kann und seine Erfahrungen austauschen kann: "Also mein Kind hat jetzt 620 Kapitel One Piece gelesen und sich 5 Piratenschwerter gebaut... muss ich mir Sorgen machen???"

Um nun einen ersten Halt für alle, die gerade in diesem Dschungel angekommen sind zu geben. Ihnen sozusagen eine kleine Machete und einen Kompass in die Hand zu drücken will ich nun die wichtigsten Begriffe *korrekt* erklären. Egal was irgendjemand anders behauptet, die nun folgende Erklärung ist vom internationalen Zentralrat des Non-Schooling in Den Haag abgesegnet worden und wird nun mit der Welt geteilt:

1.) Home-Schooling: Du hast Dich also entschlossen Deine Kinder nicht zur Schule zu schicken. Wahrscheinlich ist das ein großer Schritt und viele fangen nun an, die Schule zu Hause nachzubauen. Schulbücher, Schreibtische, vielleicht sogar eine kleine Glocke, eine kleine Tafel, Kreide und manche geben ihren Kindern sogar Noten. Willkommen in der Welt des Home-Schooling. Du versuchst nun wahrscheinlich Deinen Kindern den normalen Lehrplan besser beizubringen und kannst mehr auf ihre Fragen eingehen. Die gute Nachricht: Deine Kinder werden laut Forschung durch den besseren Schlüssel alleine schon einen Vorteil haben gegenüber einem Schulsetting.

2.) a) Unschooling: Manche Sachen in der Schule erschienen Dir fragwürdig... nunja... schwachsinnig. Total hirnverbrannte Erfindungen von kranken Köpfen, die nur dazu da waren Dich und Deine Mitschüler zu quälen - z.B. Mathe. Du willst natürlich diese Sachen nicht an Deine Kinder 1:1 weitergeben. Also lässt Du sie weg. Du lässt *schulische* Dinge weg: Un-Schooling. Das kann das Zeugnis sein, das können die Noten sein, das kann die komische Evolution sein, oder Du findest Evolution extra-klasse und wünschtest Du hättest sie damals richtig erklärt bekommen (denn laut einer Aussage verstehen die wenigsten Lehrer Evolution, sondern sind eher Lamarckisten).
Wo auch immer Du von der Schule abweichst: Unschoolst Du.

/Legacy of John Holt - ca. Minute 5 + ca. Minute 47


2.) b) Der Begriff Unschooling bezeichnet am gebräuchlichsten eine Form des Home-Schooling, bei der zumindest kein Lehrplan, keine Noten und keine Tests stattfinden. Es ist ein Interessen-getriebenes LOD (Learning On Demand).
Ein paar gute Bücher:
Aus schlauen Kindern werden Schüler. Von dem, was in der Schule verlernt wird - John Holt
Wie Kinder lernen - John Holt
Free to Learn - Pam Laricchia

3.) a) Deschooling: Wie kamst Du eigentlich darauf, dass dies oder das in der Schule doof ist? Vielleicht hast Du jeden Tag Angst gehabt in Mathe zu sitzen und hast Dich stundenlang mit den Hausaufgaben gequält .... im echten Leben hast Du dann nie wieder Mathe gebraucht und fragst Dich seitdem warum Du das durchmachen musstest? Vielleicht wurdest Du auch in Deiner Klasse gemobbt und hattest eine Zeit lang nach der Schule sogar noch Angst vor Menschen ... im echten Leben hast Du gemerkt, dass die meisten Menschen nett sind. Kein Mensch versucht Dich den ganzen Tag als den letzten Dreck hinzustellen, und wenn es doch solche Bullies mit gestörtem Verhältnis zur Gewalt irgendwo gibt, dann kann man ganz einfach den Raum wechseln. Aber wieder stellt sich die Frage, warum man jahrelang mit diesen Menschen eingesperrt war - als Kind, als man sich am wenigsten wehren konnte.
Diesen Prozess des Infrage-Stellens nennt man Deschooling. Man hinterfragt seine Erfahrungen, die man in der Schule gemacht hat und die damals als gottgegeben dargestellt wurden. Dies kann schmerzhaft sein. Da man vergewaltigt wurde, ohne es zu wissen und im festen Glauben dazu erzogen wurde, dass dies gut und wichtig für die Entwicklung sei.
Deschooling Society - Ivan Illich

3.) b) Deschooling: Deschooling nennt man auch den Prozeß des Befreiens bei Kindern, die in der Schule waren oder ein ähnlich kompetitives, gezwunges Lernsetting hatten. Oft werden Kinder die starke Schulprobleme hatte und deren Eltern dann eine "kognitive Wende" (eine sehr schnelle und rasche Transition vom Schooling zu Unschooling machen) machten so beschrieben, dass sie sich komplett gehen lassen. Nichts mehr machen wollen außer Junk-Food und Fernsehen. Und man soll dies zulassen. Nach einiger Zeit (im Raum stehen oft 2 Wochen bis 2 Monate pro angefangenem Schuljahr) kehren die Kinder dann zu den natürlichen Bedürfnissen und menschlichen Verhaltensweisen zurück. Also Selbst-Effektivität, Intrinsische Motivation, natürliche Neugier, etc.
Da das nach 6 Jahren Schule schon 1 ganzes Jahr sich selbst gehen lassen sein kann, bin ich kein Freund von diesem Ansatz. Ich bin eher Vertreter einer langsamen Transition von fremdbestimmt in selbstbestimmt. Jemand der dann selbstbestimmt ist wird dann selbst entscheiden können, ob er jetzt wirklich ein Jahr Fernsehen will und Junk-Food haben will.

4.) Radical Unschooling: Nehmen wir an, Du hast nun *ALLES* hinterfragt. Und hast gesagt: Ja, ich finde alles wirklich bäh, was da in der Schule veranstaltet wurde. Jetzt hast Du in einem jahrelangen Prozess alles über Bord geworfen und fühlst Dich komplett Gewalt- und Wertungsfrei, keine Zeugnisse, keine Stundenpläne. Spielen an der Wii und der Playstation zählt genauso als Lernerfahrung wie das Studieren von Nuklearphysik und das Entwickeln mathematischer Modelle zur Krebsbekämpfung. Anschauen von Twilight und The Walking Death zählt genauso viel wie in einem Flashmob gegen Tierversuche mitzumachen.
Das ist sozusagen der Zen-Himmel der Erziehung. Da Du nicht mehr wertest kann nichts zwischen Dir und der Beziehung zu Deinen Kindern stehen. Du erwartest nicht mehr, dass sie etwas "sinnvolles" (in Deinen Augen) machen, da sie ja ihren Sinn erst selber finden müssen. Das bedeutet sich "The Walking Death" anzusehen, kann auch zu irgendwas führen - Du weißt es nur nicht, weil es ihr Leben und ihre Bildung und ihre Ziele und ihre Träume und ihre Welt ist. Du akzeptierst aber Deine Kinder als gleichberechtigte Menschen, die ihren Weg finden.
Wenn Du irgendwann denkst Du bist ein "Radical Unschooler" dann warte ab: Es gibt immer noch einen der so dermaßen mehr "radical" ist, dass Du dagegen wie ein konservativer Spießer aussiehst, der den ganzen Tag nichts macht außer Erbsen zu zählen.
Radical Unschooling - oder sogar der "radicalste" zu sein - ist kein Wettkampf. Es ist auch nicht die Königsdisziplin! Es ist einfach eine Wahl, die jemand für sich trifft oder nicht. Es ist ein Weg, den man geht oder nicht.
Auch wenn man in manche Mailing-Listen stolpern kann (z.B. die von Dayna Martin - der Frau, die den Begriff "radical unschooling" stark geprägt hat) in denen alles andere als "falsch" oder "nicht-unschooling"-mäßig proklamiert wird, so hilft es doch "Unschooling" nicht als Religion mit nur einem Gott zu verstehen.
Und egal, wie viele Dinge Du von der Schule loslässt - Du gehst einen Weg. Das ist schon etwas! Schon allein den Kindern die Wahl zu geben, ob sie in die Schule wollen oder nicht ist ein immens großer Schritt für den Dich die prüfenden Blicke unserer Gesellschaft schon genug strafen werden.
Gehe nur die Schritte mit denen Du Dich gut fühlst, die Dir einfach fallen. Es geht nicht darum ein perfekter Radical Unschooler zu sein - es geht darum die eigenen Ziele der Menschen in Deiner Familie zu finden und zu leben.

5.) Freilernen
Ist der deutsche Über-Begriff von fast allen dieser Dinge. Er ist noch recht diffus und ich habe auch schon Eltern von Kindern an "freien Schulen" sich als Freilerner bezeichnen hören. Oft wird da der Fokus auf die intrinsische Motivation und den inneren Lehrplan der Kinder gelegt.
Man geht hier also davon aus, dass Menschen in sich bestimmte Interessen tragen, die auf ihre Entfaltung warten (hier mischt es sich also mit Unschooling). Man geht davon aus, dass diese Entfaltung in freudvoller und mit praktisch unaufhaltsamer Energie vonstatten geht.
Ein gutes Buch hierüber ist: Olivier Keller - denn mein Leben ist Lernen
Als Beispiel gilt hier Andre Stern, der irgendwann angefangen hat den ganzen Tag die Sprache Deutsch zu lernen und das bis zu 8 Stunden - oder sich Gitarrenbau aneignete, sich dann einen Meister suchte und den überredete ihn auszubilden. Respekt.

6.) Hackschooling
In einem berühmten Ted-Talk (das ist eine Serie von Vorträgen in denen Menschen Gehör finden, die irgendwas Interessantes gemacht, entdeckt, etc. haben) gibt Logan LaPlante (Home- und Unschooler) uns zu verstehen, dass man seine Bildung hacken soll. Dass man wirklich verstehen wollen soll (hacking), in welche Richtung man sich bilden will und sich dann die besten und lebensnahesten Ressourcen beschaffen soll. Das geht von Praktika in den Gebieten, aber auch Gehirnforschung, wie das Lernen an sich funktioniert. Er wirbt für eine Bildung, deren Grenzen nur noch die eigene Vorstellungskraft sind. Er definiert hier seinen eigenen Weg, seine eigene Form von "Unschooling" und gibt ihr einen Namen: Hackschooling.
Von Unschooling, Radical Unschooling, Worldschooling, Homeschooling, normales Schuling, etc. holt er sich dann nur noch Impulse. Sie gelten als seine Ideengeber - nicht als seine Dogmen. Das ist ein elementarer Bestandteil seine Bildung zu befreien.

7.) Worldschooling
Das sind Home-/Unschooler, die ihren Fokus auf Reisen haben. Sie sagen nicht den guten mittelalterlichen Spruch: My home is my castle - sondern sie sagen: Home is, where my family is.
Sie sehen die Welt, die normale Schüler aus Büchern und Ferien kennen. Oft verlassen Eltern den regulären "Wir-Büro, Du-Schule"-Weg und scheren aus in diese komplett neue Art des Lebens. Sie ähnelt etwas der Bildung des Adels und der Herrscher in Renaissance und Aufklärung. Durch Internet, Couch-Surfing, Worldschooling-Communities und umgebaute Wohnbusse ist dieses Leben heutzutage sehr viel leichter für sehr viel mehr Menschen möglich. Und man genießt die Zeit mit seinen Kindern wahrscheinlich zu einem Ausmaß, das weit hinter unseren Vorstellungen liegt. Und es wird auf jeden Fall zu der einen Entscheidung gehören, die man nicht auf seinem Sterbebett bereut.

8.) XZYSchooling
Nach diesem kurzen Abriß möchte ich (und der Zentralrat des Non-Schooling) nun empfehlen, dass jeder seinen Weg findet.
Und möchte mit Sandra Dodds schönem Satz schließen: "Lies ein bisschen, probier ein bisschen etwas neues aus, warte ein bisschen und beobachte" (Read a little, try a little, wait a little and watch).
Es ist eine wunderbare neue Welt - setz Dich nicht unter Druck. Du brauchst auch niemanden zu überzeugen (besorgte Großeltern). Die radikalste Kritik an einem bestehenden System ist es etwas anderes zu machen - und das machst Du. :)

PS: Es gibt keinen Zentralrat des Non-Schooling in Den Haag - noch an einem anderen Platz der Welt. Es gibt keinen Non-Schooling Kultusminister und auch sonst keine Autorität. Finde Deinen Weg und sieh alle anderen nur als gleichwertige Berater, deren Meinung so viel zählt wie Dein Gefühl oder Deine Meinung - oder die Meinung Deiner Mutter.

Ich hoffe der Artikel hilft Neuankömmlingen :)

1 Kommentar:

  1. Das klingt alles so schön, ist aber in der Praxis sehr schwer. Zumal dann, wenn man diesen Weg erst für sich entdeckt, wenn man schon 18+ ist und die Eltern einen nicht mehr mitversorgen. :/ Dazu hätte ich gerne Tipps :-)

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